Wer jetzt nicht einsieht, dass es in der Elektrizitätswirtschaft staatliche Regulierung zur Versorgungssicherheit und Stabilität braucht, ist ein Realitätsverweigerer.
Nach Patrick Dümmler vom konzernfinanzierten Thinktank „Avenir Suisse“ ist der Eingriff in das Preisgefüge des Strommarktes bloss „politischer Opportunismus“ (Carte Blanche vom 26.9.2022). „Avenir Suisse“ fordert jetzt einen „Befreiungsschlag“ zur vollständigen Privatisierung der Elektrizitätsunternehmen (Wochenkommentar 7.10.2022).
Marktdogmatiker sollten jetzt aus der Realität lernen. Ausgerechnet im liberalisierten Teil des Elektrizitätsmarktes gehen die Preise derzeit durch die Decke! Weil nach den Regeln der europäischen Strombörse stets der letzte teuerste Lieferant den aktuellen Strompreis für ganz Europa aufgrund des höchsten Gaspreises bestimmt. Tausende Firmen sind betroffen und weichen angesichts der Unsicherheiten auf Diesel-Aggregate aus und durchkreuzen damit ungewollt das Klimaziel.
Übrigens entstanden vor vier, fünf Jahren die Riesenverluste der schweizerischen Kraftwerksfirmen auch ausgerechnet im liberalisierten Teil des Elektrizitätsmarktes, weil mit den (damals noch) subventionierten Kohlekraftwerken in Deutschland und den Gas-Dumpingpreisen Russlands die hiesigen Strom-Gestehungskosten unterboten wurden.
Jene kommunalen Stromversorger und Unternehmen, die im freien Markt operieren, erleiden jetzt grossen wirtschaftlichen Schaden. Während sie vor fünf Jahren zwei, drei Rappen pro Kilowattstunde einsparen konnten, büssen sie heute mit 30 bis 50 Rappen Zuschlag pro kWh für den „freien Markt“.
Eine vollständig liberalisierte Elektrizitätswirtschaft ist ein realitätsfernes Schreibtischmodell, wie sich jetzt zeigt: Denn die Stromdurchleitung ist und bleibt ein technisches Monopol; der produzierte Strom ist nicht oder nur zu horrenden Kosten speicherbar; die Elektrizitätsnetze sind hochkomplex; und die Produktion ist erst noch von politischen Rahmenbedingungen wie Konzessionen, Gaspreisen und Umweltauflagen abhängig.
Stromversorgung ist Service public! Eine regulierte Sicherung der Landesversorgung nützt allen und stabilisiert die Wirtschaft. Meine Empfehlung: ihr Schreibtisch-Ökonomen werdet pragmatisch und verwendet eure liberalen Marktmodelle aus dem Lehrbuch für den Handel von Unterwäsche, Klosettpapier oder Tulpenzwiebeln - aber nicht für das Service-Public-Gut „Strom“!